Das Gebet als “Flügel” des Glaubens

■ Kürzlich befand ich mich auf dem Stuttgarter Flughafen und wollte mit der deutschen Fluglinie Germanwings eine pastorale Reise antreten. Beim Aufgeben des Koffers fiel mir plötzlich ein lustiges Wortspiel ein, welches ich dann zur Erheiterung auch anbrachte. Ich meinte nämlich zu der Dame, die am betreffenden Schalter saß und die Koffer abwickelte, auf den Namen von Germanwings (“deutsche Flügel”) anspielend: “Deutsch bin ich ja, und die Flügel bekomme ich ja nun von Ihnen”. Die Frau schaute mich kurz an und antwortete darauf ziemlich schlagfertig: “Aber die haben Sie ja schon”!
Nun, wir verstehen ja, dass sie mit diesen scherzhaften Worten wohl die Tatsache ansprechen wollte, dass sie es gerade mit einem Priester zu tun hatte, der ja als solcher wohl berechtigt mit dem Thema “Glauben” in Verbindung gebracht werden darf. Vielleicht bezog sie ihre Bemerkung auch etwas spezieller auf den Umstand, dass man da nämlich das Gebet als eine der zentralen Ausdrucksformen des Glaubens praktiziere. In jedem Fall wurde mir danach bewusst, dass hiermit so am Rande ein Glaubensthema berührt wurde, welches uns als katholische Christen eigentlich alle in gleicher Weise betrifft.
Wir haben ja wahrscheinlich schon alle einmal z.B. den Flug eines Adlers oder eines Falken bewundert. Es sieht herrlich und geradezu majestätisch aus, wie ein solcher Vogel die Erdanziehungskraft überwindet und in den Lüften schwebt ...und in uns Faszination hervorruft! Damit aber ein jeder Vogel überhaupt fliegen kann, muss er ja bekannterweise unbedingt seine Flügel benutzen. Ohne Flügel und deren entsprechenden Einsatz kann ein Vogel nicht nur nicht seiner ihm vom Schöpfer zugedachten Bestimmung entsprechen, sondern ist dann bald sogar ganz dem Tod geweiht.
Auf dieses Bild aus der Natur anspielend kann man wohl ohne Übertreibung sagen, dass der Glaube generell jene Kraft ist, welche uns, Menschen, ermöglicht, die “Erdanziehungskraft” des Irdischen, rein Menschlichen, sittlich Unvollkommenen und Sündhaften auf eine bestimmte Weise zu überwinden. Und das Gebet bildet dann in diesem Zusammenhang ganz speziell gewissermaßen die Seele, das Herzstück des Glaubens - eben dessen “Flügel”, mit deren Hilfe man sich Gott entgegen in geistige Höhen “erheben” kann!
■ Gab es denn nicht schon Situationen in unserem Leben, in welchen wir uns in welchem großen oder kleinen Umfang auch immer vielleicht irgendwie verirrt haben in irdischen Sorgen? Oder wir haben unseren Geist viel zu sehr und über bestimmte gesunde Grenzen hinaus entweder mit ungeordnetem Streben nach persönlicher Ehre und dem Ruhm belastet oder in unserem Denken und Handeln letztendlich doch zu stark materielle und zeitliche Güter in den Vordergrund gestellt. Erlebten wir dann nicht auch, dass solches Denken den betreffenden Menschen auf die Dauer doch nur innerlich leer macht und geistig hohl werden lässt - man fühlt sich irgendwie gefangen und auch seiner selbst fremd.
Und wenn man sich dann doch durchringt und Zeiten der Besinnung findet bzw. sich im Gebet ehrlichen Herzens Gott zuwendet, wird einem nach einer Weile sowohl die ganze Absurdität und Verderblichkeit des betreffenden verkehrten Strebens bewusst als auch die richtige christliche Werteordnung in Erinnerung gerufen. Diese “betende” Haltung verursacht dann zunächst eine aufrichtige Reue über die eigenen dummen Verirrungen, worauf als nächster Schritt oft auch die Stärkung im Glauben in der Besinnung auf hehre christliche Vollkommenheitsideale folgt. Nicht selten wird dieser Prozess mit tiefer Freude des Herzens ergänzt, die aus der Erkenntnis entsteht, dass wir ja die erhabene Berufung erfahren, Gott lieben zu können und uns Ihm zuwenden zu dürfen! Hoffentlich schlägt man dann, Gott gebe es, auch den Weg der konsequenten Umkehr ein und setzt die gefassten Vorsätze auch tatsächlich in die tägliche Lebenspraxis um.
Ebenfalls erleben wir die heilsame Wirkung des Gebetes in solchen Fällen, in welchen wir unsere Zustimmung eventuell zu noch schwereren Versuchungen gegeben und somit in Gedanken, Worten und Werken im schlimmsten Fall vielleicht sogar eine sogenannte Todsünde begangen haben sollten. Bisweilen ist man dann sogar so sehr verstrickt in das ganze Übel, dass man sich sogar weitestgehend orientierungslos vorkommt und in sich auch nicht die geringste Kraft zur Umkehr bzw. zur Lösung des Problems verspürt. Man lässt sich einfach weiter treiben in die falsche Richtung und entfremdet sich so vor allem Gott Schritt für Schritt.
Ja, scheinbar eine hoffnungslose Situation. Dennoch gibt es auch da eine wirksame Hilfe - das Gebet! Wenn sich ein Mensch auch und gerade in einer solchen beklagenswerten Lage befinden sollte, wendet er doch dann, wenn er tatsächlich betet, zunächst seine Aufmerksamkeit Gott zu und “schenkt” Ihm auch etwas Zeit und innere Kraft. Somit richtet er sein Augenmerk auf jene Instanz, die ihm mit dem Andauern des Betens als ersten heilsamen Schritt den geistigen Durchblick ermöglichen wird - sowohl die Erkenntnis der sittlichen Vollkommenheit und Oberhoheit Gottes als auch das Einsehen und Sich-Gestehen der eigenen Fehltritte.
Und fühlt man sich schwach, um konkrete Schritte der Umkehr zu tun, bitte man inständig Gott um die betreffende Kraft und Gnade. Leitet uns ja Jesus ausdrücklich an: “So sage Ich euch: Bittet, und es wird euch gegeben; sucht, und ihr werdet finden; klopft an, und es wird euch aufgetan. Denn jeder, der bittet, empfängt; wer sucht, der findet; wer anklopft, dem wird aufgetan. Wenn ein Sohn einen von euch, der Vater ist, um Brot bittet, wird er ihm etwa einen Stein geben? Und wenn er um einen Fisch bittet, gibt er ihm etwa statt des Fisches eine Schlange? Oder wenn er um ein Ei bittet, gibt er ihm etwa einen Skorpion? Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, wie viel mehr wird euer Vater im Himmel Heiligen Geist denen geben, die Ihn darum bitten!” (Lk 11,9-13)
Dabei muss man bedenken, dass Jesus im Gleichnis vom zudringlichen Freund (vgl. Lk 11,5-8) vor allem einem beständigen und andauernden vertrauensvollen Gebet das Wort redet. Dieser Freund kommt ja nachts von einer Reise und bittet den Hausvater um “drei Brote”. Der Hausvater will ihm aber nicht öffnen, weil ja seine ganze Familie bereits schläft. “Jener aber hört nicht auf zu klopfen. Ich sage euch: Wenn er auch nicht deshalb aufsteht und ihm etwas gibt, weil er sein Freund ist, so wird er doch wegen seiner Zudringlichkeit aufstehen und ihm geben, so viel er nötig hat.” Wobei natürlich von Gott niemand von uns als in menschlicher Hinsicht “zudringlich” betrachtet wird und Er im Unterschied zu jenem Hausvater des Gleichnisses immer gern und bereitwillig gibt! Nur sollen auch wir durch unser beständiges Gebet signalisieren, dass wir unsere Not und Hilfsbedürftigkeit sehr wohl erkennen und Seine Gnadenhilfe zu schätzen wissen!
Manchmal erlebt man die konkrete Situation, in welche sich Menschen durch ihre Sünden und Fehler bisweilen hineinmanövriert haben (wobei wir ja natürlich alle Sünder sind!) und mit welcher man dann vielleicht auch als Seelsorger konfrontiert wird, sogar als so kompliziert und verworren, dass man nicht richtig weiß, wie da der Ausweg gefunden werden sollte. An welche Lösung auch immer man denkt, gibt es überall nicht geringe Schwierigkeiten und Komplikationen. Da würde man dann auch selbst gern so manches Geld für einen guten Rat zahlen.
Durch das Erleben oder Erfahren solcher Fälle erkennt man auch, wie grundsätzlich eingeschränkt auch unsere intellektuelle menschliche Leistung ist, wie sehr wir alle auf die Erleuchtung durch die Gnade des Heiligen Geistes angewiesen sind! Da muss es ja dann einen gläubigen Christen geradezu dazu drängen, sich an Gott zu wenden, um bei Ihm auch die notwendigen Antworten auf die betreffenden essentiellen Fragen zu finden. Umso wichtiger ist es, dass man gerade in solchen sehr schwierigen pastoralen Fällen zuerst das beharrliche inständige Gebet praktiziert und von Gott die Entwirrung des betreffenden “Knotens” erbittet, auch wenn man selbst in diesem Stadium vielleicht noch überhaupt kein sprichwörtliches Licht am Ende des Tunnels erblickt.
Denn wer betet, hat immer eine Chance auf die Umkehr und somit auf eine dem Willen Gottes entsprechende Regelung seiner zur betreffenden Zeit misslichen Lage! Er wendet sich ja noch bzw. vertrauensvoll an jemand, der den Überblick über die Gesamtrealität hat und (auf eine von Ihm in Seiner Vorsehung für richtig befundene Art und Weise!) helfen kann. Man gebe nicht nach bei seinem regelmäßigen aufrichtigen Gebet und halte seine geistigen Ohren natürlich auch offen für die eventuellen Hinweise von oben.
Wer dagegen überhaupt nicht betet oder sein Gebet zu schnell aufgibt, der gibt leider auch eine jegliche Chance aufs Geholfen-Werden auf. Denn er verliert dann bald sowohl die eventuell nur noch restlich vorhandene geistige Orientierung als auch schneidet sich von der Quelle des Heils ab. Wie traurig ist es, an konkreten menschlichen Beispielen beobachten zu müssen, wie auch so manche ehemals fromme Katholiken zuerst den gesunden Glaubenseifer aufgeben und das Gebet auf ein bedenkliches Minimum reduzieren und dann im zweiten Schritt umso anfälliger werden für die in jüngster Zeit häufig und intensiv auftretenden mannigfachen Anfechtungen der Sünde bzw. für die zahlreichen Verlockungen der modernen unchristlichen Welt. Die traurigen Folgen einer solchen höchst gefährlichen Schwächung oder sogar der Ausschaltung des geistigen “Immunsystems” sind uns ja allen hinlänglich bekannt! Wer nicht betet, bleibt wie ein Vogel, dem die Flügel abgeschnitten worden sind, am Boden und kann sich nicht in die Lüfte, Gott entgegen, erheben. Da er auf diese Weise keine Nahrung findet, geht er früher oder später leider ganz zugrunde!
■ Oft muss man aber überhaupt nicht einmal in größere innere wie äußere “Turbulenzen” geraten, um die Segenskraft des Gebetes zu erfahren! Wer Gott liebt und ein geordnetes Glaubensleben pflegt, den drängt es nach der Art eines geistigen Hungers oft genug von selbst, sich seinem Schöpfer und Erlöser zuzuwenden und sein Herz auszuschütten. Wie z.B. die Eltern wie selbstverständlich gern ihre Kinder um sich herum haben oder sich gute Freunde mit Herzlichkeit begegnen und gegenseitig austauschen, so erfüllt es auch einen gottesfürchtigen katholischen Christen mit Freude, einen bestimmten Teil seiner Zeit dem Gebet als einem aufrichtigen Gespräch mit Ihm zu widmen und sich Seiner beseligenden Gegenwart zu erfreuen.
Und wie sich schlussendlich verliebte Menschen weder mit einer räumlichen Trennung abfinden noch innere Differenzen einfach so hinnehmen können, sondern sowohl das äußere Beisammensein als auch die innige Gemeinschaft miteinander suchen, so sehnt sich auch eine gottliebende Seele danach, sich Ihm in betender Haltung anzunähern und in Seiner Gegenwart zu verweilen! Ein von wahrer und selbstloser Liebe erfüllter Mensch denkt in erster Linie nicht daran, auf die Uhr zu schauen oder etwa die aufgebrachte Kraft abzumessen, die er in den geliebten Menschen sozusagen investiert. So sollte es auch für uns im Hinblick auf den Herrgott und das Gebet in erster Linie bzw. zuvörderst um die Konzentration auf unseren göttlichen Erlöser Jesus Christus gehen, auch wenn dies von uns wegen der Schwäche und Gebrechlichkeit der menschlichen Natur bisweilen natürlich auch Anstrengung und Überwindung kostet.
So gesehen stellt das Gebet wirklich eine Art “Flügel” dar, mit deren Hilfe man sich über die Niederungen des Irdischen erheben und zu den Höhen Gottes vordringen kann! Es ist also keine verlorene Zeit, die wir dafür aufbringen, sondern eine höchst sinnvolle “Investition” - sowohl im Hinblick auf die Zeit als auch die Ewigkeit! Wer richtig und im christlichen Sinn betet und dann auch die entsprechenden Schlussfolgerungen für seine praktische Lebensführung daraus zieht, dessen Glaube ist lebendig, und er gewinnt so auch die Erkenntnis bezüglich des eigentlichen Sinns und der wahren Bestimmung des menschlichen Daseins.
Ist denn unsere Seele bisweilen nicht auch von einer berechtigten großen Sorge entweder um diese Sache oder jene Angelegenheit oder um diesen oder jenen Menschen erfüllt oder fühlt sich auf der Suche nach Antworten auf wichtige Fragen ihres Lebens sogar richtig verunsichert? Man “aktiviert” zwar alle seine menschlichen Fähigkeiten und Talente, ist aber mit seinem Latein sprichwörtlich am Ende. Ringt man sich dann aber schlussendlich zum aufrichtigen Gebet durch, findet man durch diese Zuwendung zu Gott nicht selten entweder die gesuchten Antworten auf die betreffenden Fragen oder erfährt wenigstens die Linderung des betreffenden Leids bzw. den himmlischen Trost beim Kreuztragen.
So werden auch viele heilsame Erkenntnisse bzw. positive Leistungen der Menschen im und durch das Gebet geboren. Denn wenn ein Mensch in seinem Herzen das höchste Gut sucht und findet und wegen der intensiven Kommunikation mit Ihm eine gewisse Übereinstimmung seines “Herzschlags” mit der “Frequenz” des Heiligen und Vollkommenen erreicht, inspiriert es ihn ja verständlicherweise zu jeweils größeren Leistungen bzw. lässt ihn solche Erkenntnisse aus der Sphäre des Göttlichen vollziehen, welche einem Menschen ohne Glaube verborgen bleiben müssen. Haben wir denn in unserem Leben nicht auch schon analoge Erfahrungen machen können bzw. dürfen?
Ich erinnere mich da nur an das Bekenntnis eines Priesters, der als Jugendlicher den zunächst rein menschlichen Ehrgeiz besaß, die altdeutsche bzw. gotische Schrift zu erlernen, und dafür nur einige wenige sehr alte Gebetbücher seiner Oma zur Verfügung hatte. Da er gläubig war und Gebetsworte nicht nur lesen konnte, ohne sie gleichzeitig auch zu beten, gab ihm der Herrgott die Gnade, dass er während dieses Betens zum ersten Mal in seinem jungen Leben ganz intensiv die beglückende Nähe Gottes erleben durfte, was ihn sogar zu Tränen rührte. Diese ganz besondere Erfahrung, die er eben im Gebet machen durfte, prägte dann auch sein ganzes weiteres (Glaubens)Leben nachhaltig und rief in ihm auch die Frage nach einer eventuellen priesterlichen Berufung hervor.
Suchen somit auch wir unsere Zuflucht zuerst immer zum Gebet, wenn wir auf irgendeiner wichtigen Suche sind oder uns auch sonst auf die Gnadenhilfe Gottes angewiesen fühlen - möge Er unseren Verstand erleuchten und in uns die Kräfte zur Vollbringung guter Taten wecken! Wahrhaft glücklich sind wir, wenn wir in uns einen geistigen Hunger verspüren und es uns in regelmäßigen Abständen zur Erhebung der Seele zu Gott drängt.
Die Messliturgie drückt diese betende Sehnsucht nach Gott und einer innigen Gemeinschaft mit Ihm gleich zu Beginn (im Stufengebet) mit den folgenden wunderbaren Worten des Psalmisten aus: “Gott, Du bist meine Stärke. Warum denn willst Du mich verstoßen? Was muss ich traurig gehen, weil mich der Feind bedrängt? Sende mir Dein Licht und Deine Wahrheit, dass sie zu Deinem heiligen Berg mich leiten und mich führen in Dein Zelt. Dort darf ich zum Altar Gottes treten, zu Gott, der mich erfreut von Jugend auf. Dann will ich Dich mit Harfenspiel lobpreisen, Gott, mein Gott! Wie kannst Du da noch trauern, meine Seele, wie mich mit Kummer quälen? Vertraue auf Gott, ich darf Ihn wieder preisen; Er bleibt mein Heiland und mein Gott.” Und im Lavabo heißt es: “In Unschuld will ich meine Hände waschen und den Altar umschreiten, Herr. Da will ich Deinen Lobgesängen lauschen, will preisen alle Deine Wundertaten. Ich liebe, Herr, die Zierde Deines Hauses, die hehre Wohnung Deiner Herrlichkeit.”
Und wie intensiv muss doch die Gottesbeziehung der Muttergottes, wie stark ihre Liebe gewesen sein, wenn ihr Geist bereits zum Zeitpunkt der Verkündigung ihrer Mutterschaft des Erlösers durch den Erzengel Gabriel zu folgenden herrlichen Gebetsworten fähig war: “Hoch preist meine Seele den Herrn, und mein Geist frohlockt in Gott, meinem Heiland” (Lk 1,46f). Beherzigen wir doch im betrachtenden Gebet diese wunderbaren Worte der hl. Jungfrau und bemühen uns, auch in unserem Glaubens- und Gebetsleben diesem Ideal näherzukommen. Dann werden uns die Gebetszeiten auch in unserem eigenen Fall als ganz besonders und heilig vorkommen, dann werden auch wir die Erfahrung machen können bzw. dürfen, dass wir uns immer wieder wie ein Adler in die geistigen Höhen der Sphäre Gottes erheben und zu einem “Flug” der Gottesliebe und -nähe ansetzen!
■ Die bisherigen Ausführungen lassen uns bereits erkennen, was das Gebet aus christlich-katholischer Sicht ist bzw. sein soll - eine ganzheitliche und aufrichtige Zuwendung der Seele an Gott, dem eigenen Schöpfer und Erlöser! Unser Beten soll also weder in einem gedankenlosen und trockenen Heruntersagen oder -murmeln von irgendwelchen Gebetsformeln noch in einem auf eigene menschliche Leistung ausgerichteten Aufsagen oder Denken von vielleicht sogar auswendig gelernten Gebetssätzen bestehen. Nein, das christliche Gebet kann seinem Wesen nach letztendlich nur in der ehrlichen Erhebung der Seele zu Gott bestehen, die Ihn dann in Lob, Dank und mit Bitte anspricht.
Diese Erhebung des Herzens kann grundsätzlich auf zweierlei Weise geschehen - entweder durch ein so genanntes Mündliches Gebet oder durch Betrachtung bzw. Meditation. Im ersten Fall bewegt man eben seine Lippen oder spricht bestimmte Gebetsworte mehr oder weniger laut - in der Regel aus einem Gebetbuch oder auswendig gelernte.
Im Fall eines Betrachtenden Gebetes sinnt man entweder still und ohne Worte über Heilsgeheimnisse nach oder spricht mit seinen eigenen Worten in Gedanken zu Gott. In jedem Fall muss eben dieses bewusst vollzogene Sprechen der Seele zu Gott im Vordergrund stehen, damit unsere Worte und Gedanken nicht lediglich ein so genanntes Lippengebet seien, sondern wirklich den Charakter eines wahren Gebets erhalten.
Ebenfalls unterscheidet man zwischen einem Lob-, Dank- und Bittgebet. Am meisten verbreitet ist wohl diese letztere Art des Gebetes. Wenn wir erkennen, wie schwach und hilfsbedürftig wir doch sind, wie oft wir wegen unserer sittlichen Verfehlungen auch auf die Vergebung seitens Gottes angewiesen sind, haben wir Grund genug, Gott sowohl um Seine Hilfe und Gnade als auch um die Verzeihung unserer Sünden anzuflehen. Sowohl das amtliche Gebet der katholischen Kirche (die hl. Messe und das Breviergebet des Klerus) als auch die im katholischen Volk weit verbreiteten Gebete sind voll von verschiedenen Bitten um die Gnade, Hilfe und Barmherzigkeit Gottes. (Teils flehen wir da zu Gott ja auch dadurch, dass wir Maria und andere Heiligen um ihre Fürbitte für uns ersuchen.) So soll auch unser ernster Blick auf die konkrete Realität in dieser menschlichen Welt im Flehen um das göttliche Mitleid mit uns allen kulminieren: “Herr, erbarme Dich unser; Christus, erbarme Dich unser; Herr, erbarme Dich unser!”
Wenn wir aber auch nicht vergessen, darauf zu schauen, wie oft uns bereits geholfen worden ist in unserem Leben und somit auch unsere bescheidenen Gebete Erhörung fanden, wenn wir uns dabei auch der mannigfachen so genannten natürlichen Gaben Gottes bewusst werden (Speise und Trank, Gesundheit und Familie, unser tägliches Auskommen und Wohlergehen und vieles vieles andere), haben wir immer Anlass genug, Gott auch aufrichtig zu danken für alle Seine Wohltaten.
Dieser herzliche Dank soll somit auch Ausdruck unserer Wertschätzung der Hilfsbereitschaft Gottes sein. Denn je mehr man weiß, dass der, dem geholfen worden ist, sich auch der erhaltenen Wohltat bewusst ist, umso bereitwilliger steht man ihm auch beim nächsten Mal helfend zur Seite. Wir kennen ja aus dem Evangelium das Gleichnis von den zehn Aussätzigen (vgl. Lk 17,11-19), die zwar alle von Jesus von ihrem Aussatz geheilt worden sind, von denen aber nur ein einziger zurückkam und sich bei Jesus dafür bedankte. “Da sagte Jesus: ‘Sind nicht zehn rein geworden? Wo sind denn die neun anderen? Hat sich sonst keiner gefunden, der zurückkommt und Gott die Ehre gibt, als nur dieser Fremdling?’” Wie also nach diesen Worten Jesu die Dankbarkeit Ausdruck der echten Verehrung Gottes ist, so deutet die Undankbarkeit wohl darauf hin, dass es beim betreffenden Menschen nicht bestens bestellt ist mit der Verehrung Gottes!
Die höchste Art des Gebetes ist aber das Lobgebet, die Anbetung Gottes! Hier nimmt der Mensch weder die eigene Hilfsbedürftigkeit noch eine der erfahrenen großherzigen Wohltaten Gottes noch dessen Bereitschaft zu vergeben zum Anlass, sich an Ihn zu wenden, sondern tut dies ausschließlich um Gottes selbst willen - weil Er nämlich ist, weil Er gut ist!
Wenn wir einen anderen Menschen nur deswegen schätzen und ehren, weil wir von ihm irgendeine Hilfe erwarten oder Gunst erhoffen, dann hat das nicht viel mit einer echten christlichen Liebe zu tun. Es ist nur ein eigennütziges Denken, das seinen eigenen Vorteil in den Vordergrund stellt bzw. intendiert. Wie sich aber die wahre Liebe schon im zwischenmenschlichen Bereich in der uneigennützigen Konzentration auf die jeweils andere Person artikuliert und ihren Ausdruck in den Werken der selbstlosen Zuneigung zu ihm findet, so hat auch die Anbetung Gottes schlussendlich nur Ihn und Seine sittliche Vollkommenheit als solche zu ihrem eigentlichen Gegenstand! Und wie z.B. Braut- und Eheleute, zwischen denen es wirklich stimmt, aneinander die guten Seiten und Eigenschaften bewundern können und darob an sich auch ehrlich ergriffen sein können, ohne sich daraus gleich irgendeinen persönlichen Vorteil auszurechnen, so nimmt auch eine wahrhaft gottliebende Seele letztendlich Gott in Seinem Gutsein selbst zum Gegenstand seiner Gebetsbetrachtung und drückt Ihm somit im Lobpreis und der Anbetung seine eigene “Bewunderung” aus! Die kirchlicherseits anerkannten katholischen Mystiker lehren uns und leiten uns an, eben diese Heiligkeit Gottes zum Gegenstand des Gebetes, ob nun des Mündlichen oder Betrachtenden, zu nehmen und Ihm auch deswegen sein Herz auszuschütten!
Haben wir gelernt und sind wir fähig, neben dem Bitt- und Dankgebet auch das Lobgebet in einem angemessenen Umfang zu praktizieren, verleiht uns der Glaube, und hier vor allem das Gebet, wirklich jene Flügel, mit deren Hilfe wir in einer bestimmten Weise den rein irdischen Bereich auch mal verlassen und uns Gott annähern können. Dann fängt für jeden einzelnen von uns das wahre und ewige Leben in Jesus Christus bereits hier auf Erden an, weil wir ja Gott als unseren himmlischen Vater ansprechen und Ihm als unserem Erlöser nach der Art eines Liebenden auch unser Herz schenken können!
Dann haben wir auch nicht nur in der Touristenklasse oder auch sogar in der Business- oder Ersten Klasse einen Sitzplatz gebucht (wie dies bei den verschiedenen Fluglinien üblich ist), sondern befinden uns mitten im Akt der Anbetung Gottes durch Seine Engel, die im Himmel im “Heilig, Heilig, Heilig”-Gesang voll Hingabe, unentwegt und in alle Ewigkeit den Lobpreis der Herrlichkeit Gottes darbringen!

P. Eugen Rissling

 

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